Ojes

Ortsbeschreibung und Geschichte


Unser Heimatdörfchen Ojes gibt es seit 1979 nicht mehr. Es ist untergegangen im Stausee zwischen Görkau und dem großen Kohle-Tagebau Seestadtl - Obergeorgenthal westlich von Brüx / Most am Fuße des böhmischen Erzgebirges.

Aber in der Erinnerung der ehemaligen deutschen Bewohner besteht und lebt es weiter, denn für zahlreiche Menschen ist dieses Dorf ihr Heimats- und Geburtsort. Auch die Nachkommen, Kinder und Enkel werden immer wieder an diesen Namen erinnert. Wenn sie die Familiendokumente ansehen und den Stammbaum ihrer Vorfahren betrachten, so steht dort mehrfach: geboren in Ojes.

Wo lag es denn nun, dieses Dorf mit dem eigenartigen Namen: Ojes - (seit 1945 auf Tschechisch: Újezd). Heutzutage könnte man auf einem Navigationsgerät die Koordinaten einstellen und zum Schnittpunk der folgenden Linien fahren: N (Y) 50°30′12.49″ - O (X) 13°28′27.41″. Doch das genaue Ziel wird nicht erreicht werden, denn es liegt heute im Wasser, im Stausee von Ojes (tschechisch: Vodní nádrž Újezd). Mittels Internet-Google Earth, kann unter Angabe dieser Koordinaten die genaue Lage des Dorfplatzes von Ojes unter Wasser festgestellt werden. Mittels "Mapy.cz" lassen sich auch historische Landkarten von 1850 finden. Fährt der interessierte Besucher heute mit dem Auto auf der neuen Schnellstraße 13 (E442) von Komotau / Chomutov in Richtung Brüx / Most, so fällt nach der Ausfahrt Görkau / Jirkov rechts die große Eisenbahnbrücke auf. Dahinter ist der Ojeser Stausee zu sehen.


Stausee von Ojes und Kaitz 2007
links die neue Eisenbahnbrücke, darüber Schloß Rothenhaus;
rechts Hohenofen und der Tannich


Übersicht: Ojes bei Görkau, Landkarte 1930

Auf alten Land-, Straßen- und Wanderkarten, ist Ojes etwa 2 Kilometer östlich von Görkau an der Bezirksstraße nach Brüx eingezeichnet. Das nächste Dorf war Kaitz, mit dem sich Ojes zeitweise zu einer "Katastralgemeinde" zusammengeschlossen hatte. Die Dorfstraße zweigte an der etwas höher gelegenen Seifert- oder Ojesmühle von der Bezirksstraße nordwärts ab. Sie überquerte zunächst den Mühlgraben und dann den Bielabach. Die Häuser von Ojes standen reihenförmig von Süden nach Norden an der Dorfstraße. Der Ort lag in einer Meereshöhe von 273 m und hatte eine Fläche von 293 ha. Rechts der Straße befand sich der Dorfteich mit dem Gasthaus "Blechschänke".
Durch eine Holzbrücke war die Gaststätte, die auf einer Halbinsel stand, auch vom Kaitzer-Steig aus zu erreichen. In der Blechschänke tranken die Männer das gute "Görkauer Bier" oder sie ließen es sich von dort durch ihre Frauen oder von den Kindern nach Hause holen. Im Dorfteich, der teilweise recht flach war, gab es Fische und Krebse. Enten und Gänse schwammen darauf und die Kinder hatten ihre Freude beim Baden und beim Kahnfahren mit Mutters hölzernem Waschtrog.

In der Mitte des Ortes, dort wo die Bauernhöfe einen freien Platz gelassen hatten, stand die Dorfkapelle, die der Hl. Jungfrau Maria geweiht war. Im Türmchen hing eine kleine Glocke, mit der zu Andachten und zu festen Tageszeiten geläutet wurde. Eine Kirche und eine Schule gab es in Ojes nicht. Zum sonntäglichen Gottesdienst (Hl. Messe) gingen die Dorfbewohner nach Görkau in die St. Ägidius Kirche. Dort wurden Ehen geschlossen und Kinder getauft. Christliche Feste und Traditionen hatten in Görkau ihre Höhepunkte. Volks- und Bürgerschule waren ebenfalls in Görkau. Bis dorthin hatten Kinder und Erwachsene jeweils einen Fußmarsch von 30 Minuten zu leisten. Die Autobushaltestelle war in Kaitz. Der Kindergarten für beide Ortschaften befand sich ebenfalls in Kaitz. Er war in einem Haus am nördlichen Rand des Ortes, kurz vorm Bahnübergang, untergebracht. Auch die freiwillige Feuerwehr und das Spritzenhaus befanden sich in Kaitz.
In Ojes gab es keine Wasserleitung, sondern nur zwei öffentliche Brunnen mit Handpumpen. Eine davon war auf dem Dorfplatz und die zweite am Ende des Brunnenweges hinter dem Anwesen vom Schubert-Bauer. Die Frauen mußten täglich mehrmals mit zwei Wassereimern von dort das gute Wasser holen. Brauchwasser wurde dem Teich oder der Biela entnommen. Das "elektrische Licht" kam erst in den 20er Jahren nach Ojes.

Die Bewohner des Dorfes befaßten sich mit Landwirtschaft und bauten vor allem Getreide an. Einige der Häusler waren Fabrikarbeiter in Görkau bei Kühne und Tetzner. Andere arbeiteten als Handwerker oder gingen als Bergarbeiter in den "Schacht" nach Seestadtl, um ihre Familien zu ernähren. In Ojes gab es einst neben den Gastwirtschaften (Blechschänke und Clement's Gasthaus) auch einen Kolonialwarenladen (Emma Triebe), eine "Trafik" (Tabakwaren) und eine Drechslerei (Lorenz). Vor längerer Zeit hatte Ojes auch einen Bäcker (Volkmann). Das Haus Nr.1a wurde später zur Obstdarre und vor dem Ersten Weltkrieg in ein Wohnhaus umgebaut. Zu größeren Einkäufen, zum Arzt oder in die Apotheke ging man auf dem "Steig" nach Görkau oder fuhr mit Bus oder Bahn bis Komotau. Dorthin führten auch die Wege zu den Verwaltungsämtern, zum Rathaus, zur Sparkasse, zur Post, zum Photographen und ins Kino oder zum Tanzsaal, aber auch zum Friedhof.

Häusler und Bauern waren zu einem gewissen Teil Selbstversorger. In den Hausgärten wuchsen Gemüse und Obst. Kleintiere, wie Kaninchen, Hühner, Enten, oder Gänse hatte fast jeder Haushalt. In der kalten Jahreszeit heizte man die Wohnungen meistens mit der lose angelieferten, fast wie Steinkohle glänzenden, Braunkohle aus den nahen Schächten. Aber auch im Sommer ging kaum ein Herd aus, denn man brauchte diesen zum Kochen und zur Warm-Wasser-Aufbereitung mittels "Wasserpfanne". Im Winter gab es reichlich Schnee, die Sommer waren heiß und trocken. Die Hausfrauen halfen bei der Ernte und an der Dreschmaschine, die durch einen "Dampfer" (fahrbare Dampfmaschine - siehe Foto) angetrieben wurde.

Am nördlichen Ende von Ojes stand das Bahnwärterhaus, an dem die Eisenbahnlinie von Görkau über Oberleutensdorf nach Bodenbach vorbei führte. Von dort hatte man einen freien Blick ins Erzgebirge. Blickfang war, damals wie heute, Schloß Rothenhaus, eingefaßt vom Grün des Bergwaldes. Oberhalb von Türmaul, Hohenofen und Schimberg lagen - und dort liegen sie noch heute - der Tannich mit 847m und der Seeberg. Der höchste Punkt des böhmischen Erzgebirges ist an dieser Stelle der Bernstein mit 917m.

Äcker, Streuobstwiesen und mit Obstbäumen gesäumte Straßen rundeten das Bild der Umgebung von Ojes ab. Nach Süden zog sich das flache Land des Böhmischen Beckens hin; östlich konnte bei guter Sicht das Böhmische Mittelgebirge ausgemacht werden. Heute ist diese Landschaft weitestgehend durch den Bergbau und die neuen Verkehrswege zerstört.

Nähere Einzelheiten des Ortes zeigt der Dorfplan, der im Jahre 2007 neu gezeichnet worden ist (siehe Dorfplan Ojes). Häuser und Bauernhöfe mit den Namen der letzten deutschen Besitzer findet man ebenfalls dort (siehe Einwohnerliste).

Zur langen Geschichte von Ojes sei hier folgendes festgehalten: Die erste Erwähnung des Ortes liegt im Jahre 1281, obwohl Ojes auf eine Siedlung aus germanischer Zeit zurückgeht. 1383 wird von einer Wasserfeste berichtet, was durch Archäologen bestätigt wurde, die um 1978 den Untergrund für den heutigen Stausee untersucht hatten. Das Ojeser Gut wechselte mehrmals seine Besitzer. Einmal gehörte es zu Neudorf, dann zu Rothenhaus und später zu Seestadtl. 1579 wird bereits eine Mühle erwähnt. Die zweite Mühle, genannt Wiesenmühle, stand einen knappen Kilometer in Richtung Görkau an der Biela. Um 1840 wurde in der Nähe von Ojes durch Unternehmer aus Freiberg in Sachsen der "Franz-Josef-Schacht" zur Kohleförderung errichtet. Aber bereits 1905 war dieser Schacht wieder außer Betrieb.

Zu Ojes sind folgende Einwohnerzahlen und Häuser bekannt:

Jahr Einwohner Häuser
1787 unbekannt 26
1846 174 30
1869 173 30
1890 160 31
1910 152 34
1921 119 33
1930 136 32
1945 ca.100 34
1970 73 tsch. 21

Im Jahre 1850 wurde Ojes mit Kaitz zusammengelegt, ab 1869 war Ojes eine Ortschaft von Görkau.
Nach 1938 wurde Ojes mit Kaitz eine eigenständige Gemeinde im Landkreis Komotau; Bürgermeister war Karl Loos, zuletzt Anton Marka. Nach der Vertreibung der Deutschen Bevölkerung 1945/46 wurden in Ojes und Kaitz Tschechen aus dem Inland angesiedelt. Diese übernahmen die Häuser und Anwesen mit dem gesamten Inventar. Beide Orte kamen 1960 zu Wurzmes. Nach dem Abriß und der Überflutung in den 1970er Jahren ist Ojes / Ujezd 1980 aus dem Ortsregister amtlich gelöscht worden. Der Ort wird nur noch als "Vodní nádrž Újezd" (Stausee Ojes) erwähnt.

Im Zweiten Weltkrieg gab es in Ojes bei Luftangriffen keine Schäden und Todesopfer. Lediglich einige Bomben, die das Hydrierwerk Maltheuern treffen sollten, fielen auf die Felder nordöstlich des Dorfes. Im Krieg selbst (man sagte: an der Front) sind jedoch mindestens 6 Söhne von Ojes gefallen. (siehe Liste der Gefallenen unter "Kaitz") Nach der "Befreiung" durch die Sowjetarmee und bei der Machtübernahme durch die tschechischen Behörden wurden mehrere Männer verhaftet. Beispielsweise Heinrich Schmidt, der während des Krieges als Lokführer im Schacht Seestadtl-Obergeorgen-thal tätig war, ist in den ersten Tagen des Juni 1945 in das Lager der Glashütte Komotau verbracht worden. Dort hat man ihn am 7. oder 8. Juni zusammen mit zahlreichen anderen Deutschen erschossen - kein Urteil - kein Grab - unklar warum und geheim gehalten bis heute - Siegerjustiz!

Kurz darauf begann die Vertreibung der gesamten Bevölkerung von Ojes. Es handelte sich ausschließlich um Deutsche; Tschechen gab es in diesem Ort bis 1945 keine. Die erste große Vertreibungsaktion fand am 30. August 1945 statt. Früh 6:00 Uhr erging der schriftliche Befehl. Mit maximal 25 kg Handgepäck pro Person, aber ohne jegliche Wertsachen, mußte innerhalb einer Stunde das Haus verlassen werden. Damals betraf es jedes zweite Anwesen im Dorf. Angetrieben durch bewaffnete tschechische Milizen mußte sich eine Kolonne von etwa 100 Ojeser und Kaitzer Einwohner - es waren nur Frauen, Kinder und alte Leute - zum Sammelplatz in Görkau bewegen. Nach speziellen Kontrollen der persönlichen Dinge ging es weiter zum Bahnhof. Dieser Transport erfolgte in offenen Güterwagen bis zur sächsischen Grenze nach Reitzenhain. Von dort mußte man sich selbst weiter helfen. Einige Familien kamen nach Sachsen-Anhalt. Die restliche Bevölkerung von Ojes wurde 1946 vertrieben. Davon sind mehrere Familien nach Westdeutschland gekommen. In fast allen Familienverbänden gab es große und weiträumige Trennungen, die bis heute schmerzlich nachwirken. Soweit zur Geschichte.

Die Zeitzeugen möchten die Befehlshaber und die Ausführenden der Vertreibung fragen: War es wirklich nötig, die gesamte deutsche Bevölkerung 1945/46 aus der seit Jahrhunderten angestammten Heimat zu vertreiben? War es nötig, die Städte und Dörfer mit der sie umgebenden Kulturlandschaft, die durch deutsche Siedler aufgebaut worden waren, verfallen und veröden zu lassen oder sie dem Erdboden gleich zu machen?

Heute, nach mehr als 60 Jahren, versucht eine kleine Gruppe jüngerer Leute in der Tschechischen Republik die mehr als 700jährige Geschichte und Kultur der ehemaligen deutschen Bevölkerung in Böhmen aufzuarbeiten. Es ist erfreulich zu sehen und zu lesen, wie diese sich ehrlich bemühen, diese Kulturgeschichte mit ihren Menschen, aber und auch die gewalttätigen Ereignisse von 1945 bis 1947 darzustellen, um sie der eigenen Bevölkerung näher zu bringen. Beispielsweise nachzulesen in zweisprachigen, bebilderten Büchern wie "Das verschwundene Sudetenland", "Gesichter des Erzgebirges" oder "Das wiederentdeckte Erzgebirge" der Autorengruppe "Antikomplex".

Diese kurze Beschreibung von Ojes und die angefügten Fotos mögen dazu beitragen, daß das kleine Dorf und die Menschen, die dort geborenen wurden und dort gelebt haben, nicht vergessen werden. Eine Liste der Kriegstoten beider Weltkriege ist auf der Seite von Kaitz zu finden. Weitere Hinweise zu Ojes und eine Beschreibung in etwas anderer Form, auch mit Fotos vom Abriss, findet man auf der Internetseite des Kreises Komotau: www.komotau.de.

Übrigens: Es gibt in Europa noch einen Ort mit dem Namen Ojes (Oies). Auch dieser gehörte einst zu Österreich Ungarn. Der Weiler liegt in Südtirol
im Gadertal und gehört zur Gemeinde Abtei. Eine Urlaubsreise dorthin ist beschrieben in der Komotauer Zeitung Dez. 2018.

                                                                                                                 
                                                                                      (
erstellt im Februar 2009 und Dezember 2011, ergänzet Dez.2018)


Jürgen Schmidt, aus Ojes Nr. 1                                                               

(Ortsbetreuer von Kaitz-Ojes seit April 2015)
 Ferdinand-Freiligrath-Str. 20, 01454 Radeberg
e-mail: schmidt.j-goerkau@t-online.de

Für Hinweise und Korrekturen ist der Verfasser dankbar.


Quellen: Ortsgeschichte Kreis Komotau von Walter Kult
Aufzeichnungen von Ortsbetreuerin Anna Müller, geb. Münchenbach,
Gertrud Woest, geb. Harzer und von anderen Zeitzeugen
Pavel Beran, www.zanikleobce.cz
Gerhard Stübiger, Begegnungszentrum Komotau / Chomutov
Helmut Mürling, www.komotau.de
Fotos: Jürgen Schmidt, Anna Müller, Gertrud Woest, Komotauer Zeitung und Heimatarchiv Erlangen